Nach ein paar Stunden auf See kam endlich ein schildkrötenförmiger Berg im Wasser in Sicht: Die Insel Tortuga. Dort wohnte Serafina, die Frau, deren Namen Briggs vorhin so entsetzt ausgesprochen hatte. Sie war eine Zauberin, die Captain Jake Blue schon lange kannte. Briggs kannte sie länger und bedeutend besser, aber… es war eine komplizierte Sache. Deshalb wollte Briggs auch nicht zu ihr mitkommen, sondern sich, genau wie der Großteil der Mannschaft auch, ein bisschen in der Stadt die Beine vertreten. Der Rest begleitete indes den Captain zu Serafinas Hütte, wo sie sich mit irgendwelchem astrologischen Zeug beschäftigte, aus ihren Tarotkarten oder dem Bodensatz in Teetassen die Zukunft ihrer Kunden voraussagte, oder auch einfach mal nur geheimnisvoll in ihre Kristallkugel schaute. Der Rest, das waren: Robin, ein Mann mit einem Holzbein, das ab und an mal abging; Selim, ein muskulöser Türke; Eddy, ein junger, talentierter Säbelkämpfer. Diese Jungs liefen nun brav hinter dem Captain her, während er zielstrebig durch Straßen und Gassen ging. Bis Robin fragte: ,,Ey, können wir mal ’ne kurze Pause machen? Ich glaub, mein Holzbein lockert sich.‘‘ Der Captain seufzte nur, während Eddy sagte: ,,Ich verstehe nicht, warum Holzbeine nur mit Schnüren drangebunden werden. Ist doch klar, dass sich das lockert.‘‘ ,,Naja, aber guck mal, da ist dieses Stück Stoff oben am Holzbein befestigt, das zieht man ’n Stück weit über das, was vom zu ersetzenden Bein übrig ist, und dann verknotet man die Kordel da oben am Stoff. Das hält eigentlich schon recht gut, aber unser Robin ist eben ein Spezialist im Beinverlieren. Wenigstens hat er heut zur Abwechslung mal das lockere Holzbein bemerkt, bevor er‘s verloren hat.‘‘, versuchte Selim zu erklären. Während Robin knotete und die beiden anderen diskutierten, dachte Jake Blue an seine geliebte Marcia. Was sie wohl gerade machte? Und noch viel wichtiger: Was hatte sie sich dabei gedacht, als sie ihn bat, ihr die Sonne vom Himmel zu holen? Würde sie sich freuen oder enttäuscht sein, wenn er ihr im Erfolgsfall das Sonnenjuwel präsentierte? Aber es war jetzt keine Zeit dafür, weiter darüber nachzudenken, denn Robin hatte sein Holzbein wieder befestigt. Sie liefen noch ein paar Minuten durch die Stadt, bis sie vor einem mit bunten Tüchern und Amuletten unterschiedlichster Form dekorierten Eingang standen. Über dem Ganzen prangte ein Schild aus dunklem Holz. Darauf stand in goldenen Lettern: ,,Madame Serafina: Haus der Weissagung‘‘. ,,Junge, Junge, wenn die hier draußen schon so viel Dekor hat, wie muss es dann erst drinnen aussehen?‘‘, murmelte Selim staunend. ,,Werden wir gleich wissen.‘‘, meinte Eddy und deutete auf den Captain, der die Tür öffnete und eintrat. Das junge Fechttalent rannte neugierig hinter ihm her. ,,Kommst du?‘‘, rief Robin, der nun auch zur Tür hinkte, Selim zu. Der Türke riss seinen Blick von ein paar besonders kostbar aussehenden Amuletten und folgte seinen Kameraden ins ,,Haus der Weissagung‘‘. Drinnen fiel den Piraten sofort ein eigenartiger Geruch auf. Wahrscheinlich irgendwelche verbrannten Kräuter. Außerdem waren überall Tücher und Amulette verteilt, genau wie draußen. Päckchen mit Tarotkarten lagen in den Regalen, nebst Teetassen und Sternkarten. Madame Serafina schien auch gern zu lesen: Hauptsächlich esoterische Bücher, aber auch etliche dicke, verstaubte Wälzer über Astrologie reihten sich in einem Bücherregal zwischen zwei mit Kräuterdosen vollgestopften Schränken. Plötzlich ertönte aus einer dunklen Ecke eine heisere Stimme: ,,Captain Jake Blue…‘‘ ,,Aaah!‘‘, erschrak Eddy. Der Kämpfer tat eiligst ein paar Schritte nach hinten und prallte dabei gegen Robin, der sich gerade neugierig ein paar Sternkarten näher ansah. Angesichts dieses plötzlichen Zusammenstoßes fiel Robin auf den Boden, wo er wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Auch Selim wich erschrocken zurück und stolperte dabei über eine Falte im staubigen Perserteppich. Zum Glück überstand er dies ohne Verletzungen. Jake Blue schien nicht zu erschrecken. Er trat näher und fragte: ,,Okay, du hast meine Männer erschreckt. Kannst du jetzt rauskommen, Serafina?‘‘ Aus dem Schatten trat eine ältere Frau von kleiner Statur, genauso mit Amuletten behängt wie ihre Behausung. ,,Jake, willkommen. Ist denn heute Jonathan nicht bei dir?‘‘ ,,Jonathan?‘‘, wisperte Eddy, der sich mittlerweile von dem Schrecken erholt hatte, verwundert Robin zu. ,,Ja, das ist Mr. Briggs‘ Vorname.‘‘, antwortete der Einbeinige. Der Captain bestätigte dies, indem er zu Serafina sagte: ,,Nein, tut mir leid. Er ist mit den anderen etwas frische Luft schnappen gegangen. Oder zumindest das, was man hier als frische Luft bezeichnet.‘‘ ,,Schade. Aber immerhin bist du da. Und wenn du herkommst, dann meistens nicht freiwillig. Wobei benötigst du diesmal meinen Rat?‘‘ Der Captain holte tief Luft und erzählte in einem Atemzug die gesamte Geschichte. Genau wie einst Mr. Briggs hörte die Hexe sich alles an, ohne ein Wort zu sagen. Dann sagte sie: ,,Ah, das sagenumwobene Sonnenjuwel. Nach diesem Stein gelüstet es euch also.‘‘ ,,Eigentlich nur den Captain.‘‘, rief Eddy dazwischen. Jake und Serafina warfen ihm einen kurzen Blick zu, ehe die Hellseherin sich hinter ihre Kristallkugel setzte. ,,Also, dann schau ich mal, was ich für euch tun kann.‘‘ Sie murmelte ein paar Zauberworte vor sich hin, machte ein konzentriertes Gesicht und plötzlich begann die Kristallkugel zu leuchten, ehe das Bild einer seltsam geformten Insel erschien. Gut, Tortuga war auch seltsam geformt, aber auf dem höchsten Berg der Insel in der Kristallkugel befand sich ein Felsen in Form einer Sonne. Was auch verriet, welches Geheimnis die Insel barg. ,,Diese Insel… Auf ihr befindet sich dieser Stein, nach dem auch die französische Krone trachtet… Ich besitze eine Karte, die den Weg zu ihr weist. Sagen wir 100 Goldmünzen?‘‘, flüsterte die ältere Dame dem Kapitän der ,,Sirene‘‘ zu. ,,100? Ja, da soll mich doch… Das ist zu teuer.‘‘, gab Jake zurück. ,,Och, man bekommt ja direkt Mitleid mit dir. 50?‘‘ ,,Okay, aber nur, weil ich Angst habe, dass Chevalier d’Rouge dem Juwel näher kommt, während wir hier plaudern.‘‘ Zähneknirschend bezahlte der Captain. Und Sekunden später verließ er, samt Karte, Mannschaftsmitgliedern und einem hoffnungsvollen Grinsen die Hütte.